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Zwischen Genial und Wahnsinn

Der Ultra-Trail im Vipava-Tal
Es ist 22:30 Uhr! Seit einer geschlagenen Stunde sitze ich in einem Kämmerchen  des Senders auf dem Plesa und zittere mir, eingehüllt in eine Decke, die Seele  aus dem Leib! Dabei fühle ich mich weder sonderlich erschöpft noch völlig  ausgekühlt. Doch Abstellen lässt sich das Zittern auch nicht. Was ist passiert?

Kurz vor meinem Durchlauf in Podnanos ist das Wetter wieder umgeschlagen ,  seitdem regnet es in Strömen. Ich nutze die Gelegenheit, mir von meinem treuen  Begleiter Markus ein langes Shirt und frische Laufschuhe geben zu lassen. Dann  nehme ich erstaunlich frisch und munter nach den zurückliegenden 87 Kilometern  die restlichen 23 in Angriff. Noch einmal geht es steil nach oben, hoch übers  mediterrane Vipava-Tal hinaus über den Nanos, einen kleinen Mittelgebirgszug  kurz vor dem Finish im Camp Tura in Vipava. Schon auf den ersten Metern  plätschert mir das schmutzig braune Wasser entgegen, was mich angesichts der  frischen Gore-tex-Schuhe nur wenig kümmert. Trotzdem freue ich mich immer wieder  über die kurzen "trockenen" Abschnitte, wenn wir die Bergstraße kreuzen, die  sich vom Tal hoch aufs Plateau windet. Am V-Punkt oben auf der Höhe trinke ich  nur einen Becher Tee und mache mich nach nur kurzem Aufenthalt auf den  Weiterweg, Obwohl sich bereits hier einige Mitstreiter im Zelt verkriechen und  offenbar gewillt sind, die Segel zu streichen. Das Nanos-Plateau hat den  Vorteil, dass mir das Regenwasser nun nicht mehr als Bach entgegenschießt,  allerdings mit der Konsequenz, dass ich jetzt immer häufiger kleine Seen zu  überspringen oder am Wegrand balancierend zu umgehen habe.

Wenig später gehen  die Schleusen noch ein wenig weiter auf, der Wald noch lichter und der Wind  bläst ungebremst über die Hochfläche. Der Regen prasselt von Vorne, von Hinten  und von der Seite gleichzeitig auf mich ein. Die Kälte fährt mir in die Glieder.  Doch ich bin gut gerüstet, zücke meine Gore-Tex-Hose aus dem Rucksack und ziehe  diese über meine Beine. Obwohl die Hosenbeine bis zum Anschlag zu öffnen sind,  kein leichtes Unterfangen, wenn der Sturm die Hosenbeine wie einen Windsack  waagerecht ausrichtet. Irgendwann gewinne ich den Kampf gegen die Böen und die  Hose schließt sich warm um meine nassen Beine. Es kann weiter gehen. Es wird  dunkel und die gut beleuchtete Wetterstation zeichnet sich in der Ferne als ein  weithin sichtbares Ziel vom Horizont ab. In der nächsten Nähe flattern die  reflektierenden Wegmarkierungen heftig im Wind. Zum Glück ist die Strecke  perfekt ausgeschildert, verlaufen selbst bei diesen widrigen Bedingungen  unmöglich. Und so erreiche ich schnell und zielstrebig die Wetterstation. Ich  trete ein und werde von den freundlichen Helfern sofort in Empfang genommen,  bekomme eine Decke umgewickelt und einen Becher Tee zu trinken. Doch den  verschütte ich mehr als ich ihn trinke. Sofort beginne ich am ganzen Körper  massiv zu zittern. Mich schüttelt es durch und durch, die Zähne klappern laut,  keine guten Voraussetzungen, den weichen Pappbecher zu halten und tropffrei zum  Mund zu führen.

Werde ich das Rennen fortsetzen können? Wird der Tag von  einem Happy End gekrönt? Noch bin ich in der Lage, das Rennen vor 24 Uhr, also  innerhalb von 18 Stunden erfolgreich zu beenden! Dabei hat es so gut  angefangen...
Der Morgen
Nur wenige Minuten vor dem Start treten Freund Markus, der mich am Wochenende begleitet und unterstützt, und ich vor die Tür unserer Unterkunft. Die liegt perfekt gewählt nur wenige Schritt vom Start entfernt. Eine Pfütze direkt vor der Haustür spiegelt uns seit 2 Tagen immer den augenblicklichen Wetterbericht wider. Mal ist die Kuhle fast ausgetrocknet, mal ist sie zum Überlaufen gefüllt und dicke Tropfen platschen unaufhörlich in die tiefer werdende Pfütze. Heute morgen ist der Pegel etwas niedriger, in der Nacht hat es wohl nicht zu sehr geregnet, auch wenn es augenblicklich ein wenig unangenehm vom Himmel nieselt.

Harte Rhythmen schallen vom nahen Startplatz. Trotz der nur 100 Starter neben mir, ist doch viel geboten.

Der Startort Ajdovscina ist römischen Ursprungs und Bestandteil der Claustra Alpium Iuliarum. Deshalb starten wir durch ein Spalier römischer Soldaten und dann an den verfallenen Grundmauern des Castras vorbei, ehe wir den Ort Richtung Hubelj verlassen. Der Hubelj ist ein Wasserfall, der am Talende eine der Attraktionen des kleinen Ortes darstellt. Vorgestern beim Streckencheck führte der Fall schon ordentlich Wasser, heute Morgen schießt das Wasser allerdings von allen Seiten ungebändigt aus dem Berg, ein Vorzeichen dafür, was uns in den kommenden Stunden auf der Strecke noch so erwartet. Ich fühle mich fit und gut präpariert, ruhe heute irgendwie in mir selbst, und nehme entsprechend entspannt die 110 km und gut 6000 Höhenmeter in Angriff. Die Angabe der Höhenmeter schwankt allerdings zwischen 5500 und 6800 m, je nach System. Mein Ziel lautet: "Mit einem guten Gefühl finishen!" Ich habe weder Zeit noch Platzierungswünsche, das Resultat einiger schwieriger Rennen in den vergangenen Jahren. Immer wieder neue Probleme gerade auf langen Distanzen, haben mich ein wenig bescheiden werden lassen.

Die Strecke heute ist allerdings perfekt auf mich zugeschnitten. Schon bei der "Teambesprechung" mit Markus am Vorabend war sie erstens gut "zu portionieren". Erst mal hoch auf die 1. Anhöhe, den Weg kenne ich vom Strecken-Check vor zwei Tagen. Dort über die Hocheben cruisen, um dann im zweiten Rutsch den höchsten Punkt der Strecke zu überqueren. Danach gehts mit leichten Gegenanstiegen stetig bergab bis zum tiefsten Punkt und Depot der Dropbags. Dort ist dann knapp die Hälfte geschafft. Das zweite Drittel ist hügeliges Weinland, quer durch Weinberge, über sanfte Hügel, durch malerische Dörfer. Fast ein Marathon ist so zu bewältigen, ehe dann noch der Nanos zu bezwingen ist. Doch wer schon knapp 90 km hinter sich gebracht hat, schafft auch diesen letzten Berg und hinunter muss man ja sowieso irgendwie.

Zweitens kommen mir die vielen Hügel eher entgegen als wenige lange Berge, zudem erreichen wir trotz mehr als 1000 Meter Höhenunterschied trotzdem nicht die hochalpinen Regionen.
Und wie geplant verläuft das Rennen zunächst. Den ersten Aufstieg, immerhin rund 800 Höhenmeter, gehe ich defensiv an. Hektik macht auch keinen Sinn, denn der schmale Trampelpfad am waldigen Steilhang gibt kaum Gelegenheit zum Überholen, wenn dann nur mit ordentlich Einsatz. Der nächste Streckenabschnitt ist dann kaum zu übertreffen. Geniale Trails, immer an der Hangkante entlang, geben den Blick frei auf die schroffen Gesteine des Karstes, hinab ins Tal, hinüber zu den sanften Hängen der Weinberge oder gar darüber hinweg bis zur Adria. Genießen, nur nicht überpacen, lautet meine Devise. Immer wieder treffe ich auf freundliche und trotz des Regens gut gelaunte Streckenposten, die sich den Weg hierher ins unwegsame Gelände gebahnt haben. Ein paar kurze Asphaltstücke, ein knackiger Anstieg und schon bin ich auf dem Mali Gorak, dem höchsten Punkt der Runde ums Vipava-Tal angekommen. Leider ist die Aussicht hier oben schlecht, das Wetter lässt heute nicht viel zu. Dafür gehts steil und rutschig hinunter, ein "Knochenbrecher-Trail" fordert meine volle Aufmerksamkeit. Zum Glück ist die Strecke perfekt markiert, Verlaufen ist nur durch eigene Dummheit möglich. Die Organisation hat wirklich ganze Arbeit geleistet. Überall stecken Fahnen, Abzweigungen sind oft mit Trassierband abgesperrt.

Die Strecke um den Verpflegungspunkt "Mala Gora" kenne ich von einer Wanderung im vergangenen Jahr. Damals habe ich durch Zufall überhaupt vom Ultra-Trail hier gehört und einen kurzen Streckenabschnitt erwandert. Schon damals stand mein Entschluss, heute hier zu starten, fest. An der Verpflegung gibts kleine gerollte und gefüllte Palatschinken, ich greife mehrfach und voller Genuss zu, ehe ich mich, immer wieder an meine letztjährige Wanderung erinnernd, weiter laufe. Vom kleinen Gipfel des Kucelj geht es zunächst genau den brutal steilen Trail vom vergangenen Jahr hinab, ich bin froh, als der Kurs abzweigt und in sanften Serpentinen talwärts schwingt.

Beseelt verpasse ich einen weiteren Abzweig, meine Dummheit wird durch einen ordentlichen Zeitverlust und extra Höhenmeter bestraft, belohnt werde ich dafür mit einem extrem anspruchsvollen und absolut alpinem Streckenstück. Kurzer Verpflegungsstopp in Vitoflje, bevor es rasant ins Tal hinab geht. Ich freue mich schon auf Markus, mit dem ich mich hier verabredet habe. Über 1400 Höhenmeter Downhill, gespickt mit ein paar fiesen Zwischengipfeln liegen hinter mir. Zudem wird es richtig warm, ich entledige mich meiner Weste und rolle die Ärmlinge hinunter. So könnte es jetzt bleiben, die Wolken in der Ferne verheißen jedoch anderes.
Markus erwartet mich schon vor dem Verpflegungspunkt, ich gehe ein paar Schritte mit ihm, tausche mich aus. Viel Gelegenheit für Erzählungen gibt es heute ansonsten nicht wegen der Sprachbarrieren. Ich liege mehr als gut im Zeitplan und spüre noch keine Ermüdung, das lässt auf eine gute Endzeit hoffen. Eine endgültige Prognose lässt sich aber wohl erst in Podnanos stellen, wo ich mich noch einmal mit Markus treffen möchte.

Die südliche Route ist leider nicht ganz so spektakulär. Ein paar Asphaltstücke sind dabei, die nicht so viel Spaß machen, doch oft bietet die Strecke das volle Programm. Anspruchsvolle und reizvolle Trails über die Hügel, ein ständiges Auf und Ab, Weinberge, Wälder, romantische Dörfer und sogar schon reife Kirschen, die allerdings nicht so richtig schmecken wollen. Immer noch fühle ich mich locker und gut, mein Optimismus steigt, allerdings nicht, was das Wetter angeht. "Bring mir frische Schuhe mit und ein warmes Shirt" schicke ich eine Nachricht an Markus, ich will für die letzten Kilometer auf Nr-Sicher gehen, eine weise Entscheidung, wie sich noch herausstellen wird.

In Podnanos angekommen, regnet es schon in Strömen, wer kann, hat sich unter die Vordächer geflüchtet. Ich finde trotzdem ein kleines trockenes Fleckchen zum Umziehen, allerdings wehrt sich mein Magen entschieden wie erfolgreich gegen ein Stück Brot. Kein Grund zur Panik, ich fühle mich weiterhin frisch, als ich mich auf den letzten schwierigen Teilabschnitt mit mehr als 1000 Meter Höhenunterschied mache...
"In fünf Minuten kommt ein Auto und bringt Euch ins Tal", werde ich in meinem Zittern unterbrochen. "I will not go with it, I want to run and finish!" antworte ich und blicke in ungläubige Augen. "Yes, I will finish!" wiederhole ich. "You are a tough guy!" "Tough or crazy?" gehe ich noch einmal tief in mich. Soll ich tatsächlich? Rational gehe ich im Geist alle Eventualitäten durch, wäge sorgfältig die Risiken ab.

Meine Entschlossenheit ist mir nicht abhanden gekommen. Ich hole meine Rettungsdecke aus meinem Rucksack, wickle sie mir um Arme und Körper, ziehe darüber meine Regenjacke. Schlagartig wird mir wärmer, ein klares Zeichen dafür, dass ich intakt bin, noch genügend Energie in mir steckt. Mit einem kurzen Gruß verlasse ich die schützende Unterkunft, orientiere mich kurz und verschwinde im Wald. Das Wissen darum, dass es ab jetzt wieder durch schützendes Gehölz geht, war Grundvoraussetzung fürs Weitermachen. Dem Sturm hier oben hätte ich mich aus Vernunftgründen nicht noch einmal in voller Wucht ausgesetzt.

Mit sicherem Schritt laufe ich den Downhill hinunter. Unter anderen Voraussetzungen würde das jetzt tierisch Spaß machen. Doch jetzt dürften sich nicht mehr viele Menschen auf der Strecke bewegen und wenn, dann nur noch in großen Abständen. Grund genug, Spielchen sein zu lassen. Allerdings kommt ein Problem selten allein. Meine Stirnlampe zeigt mir durch ein kurzes Flackern, dass sich der Akku leert, deutlich schneller als normal. Was ist in diesen Stunden schon normal? Normal ist gerade nur der Wahnsinn, der sich um mich herum abspielt. Doch ich bin mir sicher, dass ich den letzten Verpflegungspunkt Abram noch erreichen werde, um dort dann die Batterien wechseln zu können. Zwar traue ich mir zu, dass ich das auch im Dunkeln könnte, aber mit den nassen, kalten Händen will ich nichts riskieren.

Ein Becher Tee zum Abschluss und ab Richtung Ziel. 7 km, die trotzdem noch einmal lang werden. 7 km über Stock und vor allem Stein, steile, glitschige Steine. Immer wieder rutsche ich aus, ohne mir allerdings weh zu tun. Kaum ein Schritt ist hier ungefährlich. Und wie immer will das Ziel nicht wirklich näher kommen. Ich sehe die Lichter der Stadt tief unten im Tal, versuche immer wieder vergeblich, mich zu orientieren. Doch dann entdecke ich das hell erleuchtete Camp. Wenig später bin ich da. Das fast schon obligatorische Zielfoto entfällt, die Kamera habe ich schon tief im Rucksack verstaut. Mir war nicht mehr nach photographieren zumute, auch wenn die Bedingungen hier unten im Tal wieder gut erträglich sind. Ich habe heute genug intensive Bilder abgespeichert und ich bin nur noch froh, gesund und heil im Ziel zu sein.
Still sitze ich im Zelt. Keine Feierstimmung, kein Jubel, höchstens tiefe, innere Zufriedenheit, aber auch das ist nur eine magere Beschreibung. Die Erlebnisse heute lassen sich nicht wirklich in Worte fassen. Sie haben sich eingebrannt, bleiben in mir. Alles was ich sagen könnte, beschreibt die Gefühle und das Empfinden nur oberflächlich. Es war hart, es war grenzwertig, das Wissen um die Art und Weise, wie ich das heute gemeistert habe, beruhigt und beunruhigt mich gleichermaßen. Viel hat nicht gefehlt, dann wäre es schief gegangen. 44 von 101 Startern haben das Ziel nicht erreicht, alleine 7 davon beendeten ihr Rennen in Plesa, obwohl es von dort aus nur noch bergab ins Ziel lief. Ist es genial oder wahnsinnig, dass ich weiter gemacht habe?
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