Chiemseelibelle!*
Der neue, anspruchsvolle Alpintrail in Deutschland
Hochgern, Kampenwand, Hochplatte, aussichtsreiche Gipfel und ein Trailrevier par excellence, also die ideale Spielwiese für den Chiemgau Trailrun. Auch die Idee, den vergangenes Jahr zum ersten Mal stattfindenden Marathon vom Ufer des Chiemsees aus starten zu lassen und so zum Ultra zu verlängern, hat Charme. Wobei die etwas asphaltlastigen ersten Kilometer das Herz des Trailrunners nicht wirklich erwärmen können. Doch der Tiroler Achen prägt die Gebirgslandschaft ebenso wie die Gestalt des Chiemsees. Rund 100 LKW-Ladungen an Feststoffen werden pro Tag in den Chiemsee eingeschwemmt. So starten wir am Ufer eines beeindruckendes Binnendeltas, das - theoretisch - den Chiemsee in rund 8000 Jahren verlanden lassen könnte.
Was meine Vorfreude etwas trübt ist das Wetter in der Woche vor dem Start. Nicht, dass mir Matsch, Regen und Kälte einschüchtern würden, doch die Schneefälle bis in die Niederungen sorgen leider dafür, dass die geplanten Gipfel nicht angesteuert werden können und eine Ersatzstrecke gelaufen werden muss. Trotzdem fahre ich mit Lust und Laune in den Chiemgau, Hochgern und Kampenwand waren bisher nicht mein Revier, doch ein früherer Arbeitskollege schwärmte immer von seiner Tätigkeit als Bergwachtler dort, endlich komme ich dazu, mir die Ecke mal genauer anzusehen.
Pünktlich um 3 Uhr bin ich freitags auch schon in Marquartstein. Am Zielgelände wird noch gearbeitet, doch meine Startunterlagen liegen schon bereit, drei Stunden später nehme ich auch noch das Pflichtbriefing mit, eine kluge Entscheidung, sich die Strecke noch einmal genau einzuprägen, denn es gibt doch ein paar verwirrende Schleifen im Parcour, die auch nicht immer gleich der Marathonstrecke verlaufen, sondern zum Teil in gegensätzlicher Richtung gelaufen werden müssen.
Raceday!
2:45 Uhr: Aufstehen und Richten!
3:40 Uhr: Fahrt nach Marquartstein!
3:55 Uhr: Busfahrt zum Start in Feldwies!
5:00 Uhr: Rennstart!
Der Punkt-zu-Punkt-Kurs und die frühe Startzeit bescheren eine kurze Nacht, wenig Schlaf und mir persönlich einen irritierten Magen, der so früh am Morgen nur mit etwas Gegenwehr gefüttert werden will. Dafür ist es trocken und wider Erwarten wärmer als gedacht. Ich habe 3 verschiedene lange Shirts mit im Gepäck und wähle trotzdem das einzige mitgenommene kurzeärmelige Rennshirt, dazu auch kurze Shorts, doch nicht jeder ist heute zu mutig, das hässliche Wetter der vergangenen Tage macht vorsichtig. Doch die Vorhersagen versprechen ein "Trockenfenster" bis in den frühen Nachmittag, mein Ziel ist also klar:
Im Trockenen ankommen!
Was ich nicht im Gepäck habe, ist eine Stirnlampe; bei den Überlegungen, welche Lampe ich für die kurze dunkle Startphase mitnehmen will, bin ich wohl gedanklich abgeschweift und deshalb ganz ohne losgefahren. Allerdings ist es Mitte Mai, der Himmel zwar nicht klar, aber trotzdem macht die frühe Dämmerung eine Stirnlampe auf den unbewalteten ersten Kilometern entbehrlich. Ich habe trotzdem ein schlechtes Gewissen; es ist nicht meine Art, auf Pflichtausrüstung zu verzichten, da bin ich fairer Sportsmann.
Kurz vor dem Start treffe ich Mareile und Vroni, ich kenne 3 der 15 gemeldeten Frauen, aber mit Thomas Sacher nur einen aus dem Männerstartfeld, auch etwas außergewöhnlich. Aber es zeigt auch, dass Trailrunning im Trend liegt und immer mehr "Nachwuchs" in die Szene drängt.
Mit Carla, Mareile und Vroni laufe ich auch die flachen Kilometer bis nach Grassau, dort sprengen die ersten Anstiege dann unsere entspannte Laufrunde, wobei sich Mareile nie weiter als 4 Minuten Vorsprung erarbeitet, immer wieder treffe ich sie an der Verpflegung oder sehe sie vor mit laufen, wir hätten das Rennen wohl auch gemeinsam vom ersten bis zum letzten Kilometer zurücklegen können.
In den Bergen
Leider bringt uns der Ersatzkurs nie über eine Höhe von 1200 m hinaus, damit bleiben uns Gipfel, schwierige Trails und leider auch photogene Streckenabschnitte etwas verwehrt. Läuferisch kommt mir die Strecke allerdings entgegen. Ich mag das stete Auf und Ab, kann, ohne an meine Grenzen gehen, auf dem letzten Streckenabschnitt gegenüber Mitstreitern noch fast 10 Minuten gut machen.
Zügig, doch immer mit vorsichtiger Zurückhaltung spure ich meinen Weg. Kein einziger Stolperer unterläuft mir und ich verlaufe mich nicht, was offenbar doch dem einen oder anderen offenbar passiert ist. Der Track auf der Uhr und die zahlreichen Kreidemarkierungen fügen sich für mich harmonisch zusammen und ich bin ich mir zu jeder Zeit über die zu laufende Richtung im Klaren.
Ich bleibe konzentriert, sowohl was Tempo, als auch Strecke angeht. Und so nebenbei habe ich Freude daran, immer wieder auf Mitstreiter aufzulaufen und sie dann letztendlich auch hinter mir zu lassen. Bin ich bei der 1. Zwischenzeit noch auf einem Rang um die 25, arbeite ich mich bis zum 1. Zieldurchlauf schon in die Top 20 nach Vorne.
Nach 34 Kilometern fühle ich mich noch immer frisch und kraftvoll und freue mich über meine 3 kleinen Kartoffeln, die ich als "Pflichtriegel" in den Rucksack gepackt habe. Es gelüstet mich heute nicht nach anderer Verpflegung, gut, dass ich heute auf diese zwar etwas schwere, aber doch recht bekömmliche Verpflegungsform gesetzt habe.
34 km hinter sich, nur noch 26 km vor sich, fühlt sich gedanklich auch gut an, mehr als die Hälfte ist gepackt und - kaum ein paar Minuten weiter gelaufen, hat man gefühlt nur noch einen guten Halbmarathon vor sich. Da spielt es auch keine Rolle mehr, dass wohl noch mehr als die Hälfte der Höhenmeter vor mir liegen. Leider auch noch viele Downhills, die ja nicht so zu meiner Stärke gehören. Bergab läuft dann doch der eine oder andere wieder zu mir auf, den ich schon weiter hinter mir geglaubt habe.
Doch ich motiviere mich an der schöner werdenden Strecke. War der westliche Streckenabschnitt noch dominiert von Forstwegen, gibt es jetzt immer mehr Trails zu laufen, ab und an öffnet sich der Wald und gibt die verschneiten Gipfel und auch den Blick zurück zum Chiemsee frei. Ich fühle mich in meinem Element und genieße von Minute zu Minute mehr. Und dafür bin ich schließlich hergekommen.
Kurz vor der letzten Verpflegung bei Staudach ruft mir ein Biker "15. Mann" zu, bis dahin habe ich gar nicht gewusst, wo ich liege. In dem Augenblick erwacht dann doch etwas der Wettkämpfer in mir mir. Platz 15 klingt gut, ich beschließe, diesen Rang bis ins Ziel auch nicht mehr herzugeben. Als ich dann nur 2 Minuten später am Verpflegungsstand plötzlich von 3 oder 4 Mitstreitern umringt bin, gerät dieses Vorhaben plötzlich so schnell in Gefahr, wie es mir in den Kopf kam. Denn ich habe nur noch 2 km Aufstieg, aber noch 7 km Downhill vor mir, die Zeichen stehen also nicht so gut, zumindest dann nicht, wenn ich mir auf den ersten beiden steilen Kilometern nicht ausreichend Vorsprung verschaffe.
Also stiefel ich los, überhole, werde überholt, kann meinen Platz also bis zur Schnappenkapelle halten. Dort nehme ich mir auch die Ruhe, den Blick über das Tiefland mit dem Chiemsee schweifen zu lassen, so viel Zeit muss sein. Dafür sind die nächsten Kilometer Schaulaufen. Im flotten Downhill - ein bisschen kann ichs ja doch - geht es auf der gleichen Strecke, die ich vor 1 1/2 Stunden hinaufgeklettert bin, wieder hinunter. Ständig kommen mir Läufer der anderen Distanzen entgegen, feuern mich an, rufen mir aufmunternde Worte zu, ich antworte entsprechend. Das macht natürlich Laune und spornt an. Und hinter mir ist niemand zu sehen. Wobei der waldige Trail auch keine weiten Blicke zulässt. Erst als ich unten im Tal bin, den Wald verlasse und zwischen frisch gedüngten Wiesen den letzten Kilometer in Angriff nehme, kann ich mich absichern und weiß, dass nix mehr anbrennen wird.
Ein paar Meter am Tiroler Achen entlang, wenige Stufen hoch vom Uferweg auf die Straße und eine letzte Kurve. Fast wird meine Ankunft vom Zielsprecher übersehen, der mit Mareile gerade das Siegerinterview beendet. Sie konnte - nur zwei Wochen nach ihrem Sieg beim Race across Italy - auch heute gewinnen und hat Aufmerksamkeit natürlich mehr verdient als ich. Wir klatschen uns erfreut ab. Ziel erreicht, noch vor den erwarteten Regenfällen das Rennen beendet, alles weitere ist Zugabe.
Lässig strecke ich die Beine aus, lasse alles um mich herum wirken. Ich bin zufrieden. Diese Zufriedenheit breitet sich in mir aus (leider ein wenig vom Magen gestört, der bis jetzt halbwegs Ruhe gegeben hatte und sich plötzlich wieder meldet. Da auch das Wetter nun doch zu kippen droht, verschwinde ich vor der Siegerehrung am Abend auf ein Schläfchen, bin erst nach den dann doch heftigen Regenfällen wieder zurück.
Nächstes Jahr wieder? Ja, in der Hoffnung, dass 2020 die Originalstrecke in Angriff genommen werden kann. Spätestens dann steht einem perfekten Trailerlebnis nichts mehr im Wege!
* "Chiemseelibelle" deshalb, weil die Strecke mit ihren 2 Schleifen östlich und westlich des Tiroler Achens einer Libellenform ähnelt