PEMA-6-Stunden-Lauf 2010
Das Geheimnis der Rarámuri

Anton Luber (Mitte)- blinder Läufer mit seinem Begleiter Roland Blumensaat (re.).
Samstag. 10.00 Uhr. 6-Stundenlauf in
Weißenstadt. Rings um mich herum die typischen hageren, langen Läufer. Ich
komme mir vor wie Ottfried Fischer bei Germany´s next Topmodell. Aber es
geht noch dürrer. Im Geiste sehe ich Paul Tergat vor mir. 1,82 m groß und
wiegt 56 kg. Kein Gramm Fett. Marathonweltrekordler Haile nur Sehnen und
Muskeln. Da taucht die Frage auf: Wer sind die besten Langstreckenläufer der
Welt? Die Kenianer oder die Äthiopier? Die Antwort: Keiner von beiden,
sondern das Volk der Tarahumara. Sie leben in der Bergwüste der Sierra Madre
im Norden Mexikos.
 
Links, Robert Wimmer, der spätere Sieger
gemeinsam mit dem Querläufer
Der Start reißt mich aus meinen Gedanken. Wir laufen los! 6 Stunden. Um
16.00 Uhr ist Schluss. Wer läuft die meisten Kilometer? Vorne schießen die
ersten los wie bei einem 10 KM-Lauf. Leichtfüßig schweben sie davon wie die
Tarahumara, die Langstreckenläufer. Laufen nimmt in ihrer Kultur einen hohen
Stellenwert ein, da sie traditionell Jäger sind. Sie bezeichnen sich selbst
als Rarámuri (die, die schnell rennen). Sie laufen bis zu 170 km durch rauhe
Schluchten ohne anzuhalten. Heute könnte ich auch etwas vom Geist der
Rarámuri gebrauchen. Ich war schon einmal schneller unterwegs. Langsam laufe
ich mich ein, finde meinen Rhythmus.

Vor dem Start

Eines Tages waren sie da. 1993 bei einem der schwierigsten Ultramarathons
überhaupt, dem Leadville Trail 100. Was für ein Gegensatz? Ein Zusammenprall
der Kulturen: Dort die in Polar-Fleece gehüllten, Pulsmesser tragenden
Favoriten. Hier ein halbes Dutzend Typen mittleren Alters. Sie rauchten,
trugen Tunikas und selbst gemachte Sandalen. Die Sandalen hatten sie sich
aus alten Reifenteilen vom nahe gelegenen Autofriedhof zusammengeflickt. Das
ist schon Wahnsinn, denke ich mir. Und ich laufe hier in High-Tech-Schuhen
über den Asphalt. Wo bin ich eigentlich? Runde Drei oder Vier? 11.00 Uhr.

Nr. 221 Josef Schinabeck, Stammgast in
Weißenstadt

6 Std. lang gibts Informationen
über Läufer und Positionen.
Sie wärmten sich nicht auf. Machten keine Dehnübungen oder Ähnliches.
Nichts, aber auch nicht das Geringste ließ darauf schließen, dass diese
seltsame Bande gleich an einem der anstrengendsten Extrem-Marathon der Welt
teilnehmen würde. Vor mir läuft Josef. Seit 2 Stunden mein Laufpartner. Ist
das schon Runde Acht? Heute geht alles so schnell. „Running Indians?“, geht
es mir durch den Kopf. Die Gruppe hatte zuvor nie ein spezielles Training
absolviert. Sie achteten auch nicht darauf sich vor dem Lauf zu schonen. Das
ganze Jahr über rauchen sie schwarzen Tabak. Sie vertilgen Unmengen von
Kohlehydraten und kaum Fleisch. Ihr Lieblingsgetränk ist ein schwarz
gebrannter Kaktus-Fusel, sodass sie ein Drittel der Zeit entweder Betrunken
sind oder einen Kater haben. Ich glaube ich habe auch bald einen Kater.
Einen Muskelkater. Es läuft überhaupt nicht rund. Nix Raramuri! Jochen der
Plattfußindianer läuft um den See.

Endorphinschub und Erschöpfung liegen beim
6-Std. Lauf nah beieinander.

Nach dem Start blieben die Tarahumara erwartungsgemäß hinter den bekannten
Ultraläufern zurück. Später zogen die „Running Indians“ scheinbar mühelos
leichten Schrittes an den übrigen Teilnehmern vorbei. Mir geht es seit 2
Runden ähnlich. Schon bald hörten die Führenden das laute Sandalengetrappel
immer näher kommen. Die Indianer wurden zunehmend stärker und zogen das
Tempo an. Auch ich erhöhe das Tempo, ziehe an einer Dreiergruppe vorbei. Ich
fühle mich gut. Die Zuschauer feuern mich an. Wieder überhole ich zwei. Die
anderen Teilnehmer werden langsamer. Das letzte Mal den Kopf nass machen.
Turbo einschalten. Gas geben. Die letzten Kilometer. Noch zwanzig Minuten.

Anton zusammen mit seinem Führer Roland
Victoriano Churro, ein einfacher Bauer, lief mit nur einer Sekunde Vorsprung
vor Cerrildo Chacanto über die Ziellinie. Die Sensation war perfekt! Ich bin
heute ebenso verblüfft. Vor mir taucht der Drittplatzierte auf. Als wäre die
Kräfte verzehrende Strecke ein Kinderspiel, ziehe ich das Tempo noch einmal
an. Ich komme immer näher. Noch zwanzig Meter. Gleich überhole ich. Da
ertönt der Zielschuss. Robert Wimmer, Sören Schramm, Rainer Leyendecker und
dann ich auf Platz 4. Überraschung. Die Rarámuri kamen, sahen und siegten,
zwei Jahre hintereinander. Pulverisierten den Streckenrekord. Verschiedene
Ultramarathons folgten. Wo sie hinkamen waren sie vorne mit dabei. Dann
waren sie wieder weg. Verschwanden aus der Laufszene. Das Geheimnis ihrer
unglaublichen läuferischen Fähigkeiten nahmen sie mit. Und heute hat mich
der Geist der Rarámuri berührt.

Verpflegung und das Essen hinterher lassen
alle Qualen dahinschmelzen.

Run happy and smile!
Euer Querläufer
Jochen Brosig
Röttenbach, den 14. September 2010
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Ultra-Habicht:
Stein
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Troisdorf 2007
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