
Das
Geheimnis der Tarahumara
8. Burgebracher Maibaumlauf
Ich stehe am Start in
Burgebrach. Rings um mich herum die typischen hageren, langen Läufer.
Ich komme mir vor wie Ottfried Fischer bei Germany´s next Topmodell.
Aber es geht noch dürrer. Im Geiste sehe ich Paul Tergat vor mir. 1,82 m
groß und wiegt 56 kg. Kein Gramm Fett. Marathonweltrekordler Haile nur
Sehnen und Muskeln. Da taucht die Frage auf: Wer sind die besten
Langstreckenläufer der Welt? Die Kenianer oder die Äthiopier? Die
Antwort: Keiner von beiden! Kürzlich las ich einen Bericht über das Volk
der
Tarahumara. Sie leben in der
Bergwüste der Sierra Madre im Norden Mexikos.

Neumitglied des Langstreckenteams,
Tarahumara Brosig aus Mexiko
Der Start reißt mich aus meinen
Gedanken. Es geht los! Wir gehen auf die erste Runde. Berühmt sind die
Tarahumara als Langstreckenläufer. Laufen nimmt in ihrer Kultur einen
hohen Stellenwert ein, da sie traditionell Jäger sind. Sie bezeichnen
sich selbst als Rarámuri (die, die schnell rennen). Auch heute gibt es
Tarahumara, die – ob nun zur Jagd oder auf Wettrennen – bis zu 170 km
durch rauhe Schluchten laufen, ohne anzuhalten. Heute könnte ich auch
etwas von dem Geist der Rarámuri gebrauchen. Als Abschluss vom
Marathontraining schnell noch einen Zehner. Wir biegen auf die
Zielgerade ein. Da vorne ist schon das Zielbanner. Mittlerweile ist das
Gedränge nicht mehr so groß. Ich laufe in die zweite Runde.

Durch Burgebrachs Gassen

Plötzlich waren sie da. 1993
bei einem der schwierigsten Ultramarathons überhaupt, dem Leadville
Trail 100. Was für ein Gegensatz? Ein Zusammenprall der Kulturen: Dort
die in Polar-Fleece gehüllten, Pulsmesser tragenden Favoriten. Hier ein
halbes Dutzend Typen mittleren alters. Sie rauchten, trugen Tunikas und
selbstgemachte Sandalen. Schaut Euch die Laufsandalen einmal auf „you
tube“ an. Bericht: „How to wear Tarahumara running sandals“ Die Sandalen
hatten sie sich aus alten Reifenteilen vom nahe gelegenen Autofriedhof
zusammengeflickt. Das ist schon Wahnsinn, denke ich mir. Und ich laufe
hier in High-Tech-Schuhen über den Asphalt. Auf welcher Runde bin ich
eigentlich? Drei?

Tarahumara Brosigs "Asics-Raramuri-2010"
Sie wärmten sich nicht auf.
Machten keine Dehnübungen oder Ähnliches. Nichts, aber auch nicht das
Geringste ließ darauf schließen, dass diese seltsame Bande gleich an
einem der anstrengendsten Extrem-Marathon der Welt teilnehmen würde. Vor
mir läuft Elisabeth. Heute sind wir nur zu zweit vom Langstreckenteam.
„Klasse Elisabeth, weiter so!“ Ist das schon wieder der Zielbereich.
Heute geht alles so schnell. „Running Indians?“, geht es mir durch den
Kopf. Die Gruppe hatte zuvor nie ein spezielles Training absolviert. Sie
achteten auch nicht darauf sich vor dem Lauf zu schonen. Das ganze Jahr
über rauchen sie schwarzen Tabak. Sie vertilgen Unmengen von
Kohlehydraten und kaum Fleisch. Ihr Lieblingsgetränk ist ein schwarz
gebrannter Kaktus-Fusel, sodass sie ein Drittel der Zeit entweder
Betrunken sind oder einen Kater haben. Ich glaube ich habe auch bald
einen Kater. Verirrt? Verwirrt! Oder bekomme ich einen Drehwurm? Runde
vier liegt vor mir. Oder? Nein, es ist doch schon die fünfte.

Viele bekannte Gesichter sind
auch heute da. Doch die sind schon weit vorne. Ich musste sie ziehen
lassen. Alles läuft im Zeitraffer ab. Über mir das Ziel-Banner. Nix
Raramuri! Jochen der Plattfußindianer läuft in die sechste Runde.

Nach dem Start um vier Uhr
nachmittags blieben die Tarahumara erwartungsgemäß hinter den bekannten
Ultraläufern zurück. Am Morgen kurz nach Sonnenaufgang zogen die „Running
Indians“ scheinbar mühelos leichten Schrittes an den übrigen Teilnehmern
vorbei. Schon bald hörten die Führenden das laute Sandalengetrappel
immer näher kommen. Die Indianer wurden zunehmend stärker und zogen das
Tempo an. Auch ich erhöhe das Tempo. Ziehe an einer Dreiergruppe vorbei.
Die Zuschauer feuern mich an. Auf einer Welle werde ich in die siebte
Runde getragen.
Dann überholt mich das
Führungsfahrrad. Wenig später zieht Ingo Bäuerlein an mir vorbei. Er
setzt zum Zielspurt an. Vor mir liegt Runde acht. Noch einmal durch das
Tor. Das Ziel ist greifbar nahe. Das letzte Mal den Kopf nass machen.
Turbo einschalten. Gas geben. Der letzte Kilometer.

Ingo Bäuerlein - auch an
Ostern in
Schesslitz am Start
Victoriano Churro, ein
einfacher Bauer, lief mit nur einer Sekunde Vorsprung vor Cerrildo
Chacanto über die Ziellinie. Die Sensation war perfekt! Als wäre die
Kräfte verzehrende Strecke ein Kinderspiel, sprangen die Tarahumara noch
lange im Zielbereich auf Zehenspitzen herum und freuten sich gemeinsam.

im Ziel
Die Rarámuri kamen, sahen und
siegten, zwei Jahre hintereinander. Pulverisierten den Streckenrekord.
Verschiedene Ultramarathons folgten. Wo sie hinkamen waren sie vorne mit
dabei. Dann waren sie wieder weg. Verschwanden aus der Laufszene. Das
Geheimnis ihrer unglaublichen läuferischen Fähigkeiten nahmen sie mit.
siehe auch:
www.tarahumara.com.mx
Jochen Brosig
Röttenbach, Mai 2009 |