
Gute
Zeiten, schlechte Zeiten
4. Hartmannlauf in
Neustadt / Aisch
Wenn ich von einem Wettkampf
heimkomme, fragt meine Frau: „Und, wie war`s?“ Sie erwartet dann eine
Beschreibung, wie ich die Grenzen in meinem Innern überwunden habe, wie
der Moment war, als der Kopf sich frei machte, ob die Anfeuerungsrufe
der Zuschauer heute geholfen haben oder wie mein Gefühl war durchs Ziel
zu laufen. Oft ist die Antwort ein Grummeln: „Hm. War schon o.k.“ Sie
versteht das nicht. Ging es dir schlecht? Bist du umgeknickt? Hast du
den Weg nicht gefunden? Hat dir im Ziel jemand das letzte alkoholfreie
Weizen weg getrunken? Oder was? Nichts von alledem. Noch ein Grummeln:
„1 Minute zu langsam.“

Wie abgesprochen fuhren wir
heute auf dem Parkplatz in Neustadt ein. Alain, Birgit, Günther, Heinz,
Helmut und ich. Eine starke Truppe. Halbmarathon war heute angesagt. Um
10.15 Uhr sollte es am Steinsweg losgehen. Warmlaufen, Dehnen, fertig
machen. Ich hatte ein gutes Gefühl am Start und drücke meine Polar ab.
Von da an liefen die Sekunden unerbittlich.
Meistens sind es nur zwei
Zahlen. Sie entscheiden am Ende über Sieg oder Niederlage. 60 Sekunden
zum Beispiel. Je nach Strecke sind es dann umgerechnet auf den Kilometer
zwischen 1,5 sec. – 3 sec. Ich stoße auf Unverständnis. Meine Frau
versteht mich nicht. Wie auch? Denn sonst könnte sie unterscheiden
zwischen halb eins und zehn vor eins, zwischen zwölf und zwölf Uhr
zwanzig. Die Zeiger ihrer Uhr interpretiert sie fantasievoll. Unser
gemeinsames Leben verbringe ich meist mit warten. Vor dem Schuhgeschäft,
vor dem Friseur, vor ihrer Lieblingsboutique. Deshalb ist es für sie
unverständlich, dass es bei 1 Minute um Lichtjahre, Äonen,
Fantastilliarden geht.
Der Wind blies uns entgegen.
Zwei ganz schnelle waren schon außer Sichtweite. KM4 – Ich lief in der
Verfolgergruppe auf Rang 3. Es ging erstaunlich gut. Bin ich zu schnell,
dachte ich mir. Nein, ich war im Plan. Mit Thomas aus Burghaslach
wechselte ich mich im Wind ab. KM5 – 19:irgendwas. Was war das doch
gleich für ein Kilometerschnitt?
Zahlen waren ein Mysterium für
mich. Bis zu dem Tag, als die Zahlen plötzlich lebendig wurden, dass sie
förmlich an mir hochsprangen und sich an meinem Funktionsshirt
festkrallten. Ich war elektrisiert. Sieg oder Niederlage, Sehnen oder
Leiden, Leidenschaft und Tränen. Der erste Marathon. Das erste Mal unter
3 Stunden. Der erste Rennsteiglauf. Mein erster Lauf über 100 Kilometer.
Monatelanger Fleiß, literweise vergossener Schweiß, Gewichtsverlust,
konsequente Ernährung alles ausgedrückt in ein paar Zahlen.
Der Wendepunkt lag längst
hinter mir. Inzwischen lag ich an Position 4. Und es lief immer noch
hervorragend. Heute war ein Tag zum Beißen. Das konnte eine echt gute
Zeit werden. Ich zog das Tempo an und rannte dem Ziel entgegen.
Meiner Frau bleibt bis heute
das Strecke-Zeit-Kontinuums verborgen: Die gestoppte Zeit ist eines der
vielen Dinge, die Laufen zum wunderbarsten Sport der Welt machen. Kein
Schiedsrichter, der pfeift, wie er will, kein Linienrichter, der das
Abseits nicht sieht, keine Jury, die Haltungsnoten bewertet. Es gibt nur
die unbestechlichen Zahlen, die im Ziel alles sagen. Die kann mir keiner
wieder nehmen. Hier gibt es nichts zu diskutieren. Deshalb ist es auch
so hart. Aber heute sind die Zahlen auf meiner Seite. KM19 – Ein Blick
auf meine Uhr verriet mir: Es sieht gut aus, Jochen! Mein Urschrei
zündete die letzten Adrenalinreserven für eine Tempoverschärfung. Das
muss das Runner´s High sein!
Es ist ein wundervoller Tag,
die Sonne schmunzelt durch ein paar Wolken, so dass die Vögel zu singen
angefangen haben. TSJAKKA! Fünf popelige Zahlen hängen in der Luft,
getrennt durch zwei Doppelpunkte und mit einem verdammt sauguten Karma.
1:22:15 ! OM !
„Und, wie war´s?“, fragt meine
Frau. „Wunderbar!“, antworte ich während ich meinen Teller leere. Heute
brauche ich keine Urkunde, auch keinen Altersklassenpreis. Als 1.Preis
bekam ich ein WOK-Reis-Gericht. Egal, wenn sie auch nichts vom
Strecke-Zeit-Kontinuum versteht, aber beim Kochen ist sie ganz vorne
dabei.
Run happy! Need more speed!
Jochen Brosig
Röttenbach, den 29. März 2009 |